Die Völkerwanderung
Morgens, 13 Minuten vor neun, mitten in Dortmund: der Schulgong ertönt und über 500 Schülerinnen und Schüler strömen aus den Unterrichtsräumen der Ricarda-Huch-Realschule in die engen Gänge. Es geht treppauf und treppab raus aus dem Eingang Ost, wieder rein in den Eingang West oder quer über den Hof in den Neubau: volles Programm für die zweiminütigen Wechselpausen. Mehr oder minder zügig, aber immer mit ihren Taschen beladen, streben die Schüerinnen und Schüler auf das Hoheitsgebiet eines Lehrers und/oder einer Lehrerin zu. Alle 45 Minuten wiederholt sich diese Völkerwanderung, es sei denn eine Doppelstunde findet statt (das kommt in letzter Zeit recht oft vor). Nur die Lehrerinnen und Lehrer bleiben in Räumen und erwarten ihre Lerngruppe.
Und warum das alles? Die Antwort lautet: LEHRERRAUMSYSTEM.
Auf der Suche nach Begründungen
Was soll das eigentlich, dieses Lehrerraumsystem? Viele Schülerinnen und Schüler stehen ihm skeptisch gegenüber und fragen nach einer Begründung. Ökonomische Gründe können das nicht sein, denn wie soll Zeit und Kraft gespart werden, wenn statt gut 30 Lehrerinnen und Lehrern Hunderte von Schülerinnen und Schülern Räume wechseln? Zahlenmäßig ist das Unsinn und auch irgendwie undemokratisch, könnte man denken. Es muß also etwas anderes dahinterstecken.
- Vielleicht eine Kampfansage an die Lethargie 15-jähriger Couch-Potatoes?
- Oder wird die gicht- und arthrosegeplagte Lehrerschaft geschont?
- Wird damit vielleicht versucht, die Rente mit 77 in den Bereich des Möglichen zu rücken?
- Oder ist es der womöglich letzte verzweifelte Versuch, über Bewegung in der Schule eine ebensolche in die Schulstrukturdebatte zu bringen?
Der Entscheidung der Schulkonferenz der Ricarda-Huch-Realschule, die nach einer zweijährigen Probezeit im Frühjahr 2003 das Lehrerraumsystem als Organisationsrahmen für die schulische Arbeit festschrieb, liegen andere pädagogische Überlegungen zu Grunde. Viele Vorbehalte gegen das Programm entstehen durch die Vorstellungen, die mit dem Wort „Lehrerraumsystem“ verknüpft werden. Es ist ein irreführender Begriff, und das nicht nur, weil – zumindest in den Realschulen – hinter den Türen zu den Lehreräumen meist Lehrerinnen zu finden sind. Irreführend ist er vor allem, weil er auszusagen scheint, dass die Lehrkräfte das Wichtigste in der Schule sind, dass sich alles um sie dreht.
Dabei ist es etwas ganz anderes, was mit diesem Programm in den Mittelpunkt schulischen Lebens gerückt wird, nämlich der Unterricht.
Das bringt es uns
Die zentrale Frage ist nicht: “Wem gehört ein Raum?“, sondern: „Was soll und kann man in einem Raum tun?“ Die Antwort in Schule lautet: lernen. Lehrerräume sind Lernräume, deren Einrichtung und Gestaltung abgestimmt wird auf die Erfordernisse eines bestimmten Unterrichtsfachs. So wie Sport-, Chemie-, Biologie-, Physik-, Kunst-, Musik- und Hauswirtschaftsunterricht angewiesen ist auf funktional eingerichtete und gut ausgestattete Räume, so profitiert auch der Sprachunterricht von einer eigens auf ihn abgestimmten kommunikationsfördernden Sitzordnung. Die Wirksamkeit von Unterricht kann gesteigert werden, wenn man das notwendige Material zur Hand hat, wenn die Arbeitsergebnisse einer Gruppe auch für andere Lerngruppen sichtbar sind, wenn in Unterrichtsprojekten entstandene Produkte sicher aufbewahrt und Monate später weiter bearbeitet werden können. In dieem Sinne sind Lehrerräume Lernräume und Lernträume. Sie sind ein Organisationsrahmen, der die individuellen gestalterischen Fähigkeiten eines jeden Lehrers und einer jeden Lehrerin offen legt und herausfordert. Lehrerräume sind somit eine große Chance für die Weiterentwicklung von Unterricht. Für Schülerinnen und Schüler sind sie „Gaststätten“, für sie gebaut und instandgehalten; Räume, deren Angebot sie ansprechen und die es ihnen ermöglichen sollen, in einer angenehmen Atmosphäre dem nachzugehen, weshalb sie und wir hier sind: Wegen des Lernens.
Michaela Lange